Dienstag, 21. Juni 2016

Das Naheliegende

Da ich am Morgen im Medikamentenfach auf Hinz' Spuren gestoßen und nun unsicher bin, ob er die fehlenden Tabletten gefressen oder lediglich zerkrümelt und umhergewirbelt hat, sorge ich mich um ihn. Er ist noch immer nicht zurück im Käfig, sondern drückt sich an den Wänden hinter Möbelstücken entlang oder in dunklen für Menschen schwer zugänglichen Ecken herum, wie Ratten das eben so machen. Meist ist er dabei zu hören, aber nicht immer. Sobald er ruhig wird, werde ich unruhig: Lebt er trotz Medikamentenvergiftung noch? Was, wenn sein Leichnam nun irgendwo liegt, wo ich überhaupt nicht herankomme, beispielsweise hinterm an der Wand befestigten Schrank im Flur! Ich suche also nach Hinz, leuchte mit der Taschenlampe alle nur irgend erdenklichen Rattenverstecke ab, finde ihn aber nicht, jedenfalls nicht sofort... Erst, als er mir hilft, indem er im Medikamentenfach anfängt, mit den Blechdosen zu scheppern, die meine Medikamente seit heute früh rattenzähnchensicher beherbergen. Er ist an den Tatort zurückgekehrt! Wie naheliegend! Darauf hätte ich eigentlich auch ohne seine Nachhilfe kommen können. Als ich jedoch die Schublade aufziehe, um Hinz herauszuholen, springt er mir blitzschnell über die Schulter und davon.
Zwar liegt das Naheliegende sehr nah, mensch kriegt es aber kaum zu fassen.

Es wird gefährlich

Hinz ist seit Donnerstagabend außerhalb des Käfigs in der Wohnung unterwegs. Kein Problem, wäre er nicht so kreativ, sportlich an Orte zu gelangen, die nicht für ihn bestimmt sind. Letzte Nacht war er ganz offensichtlich im Medikamentenfach. Keine Ahnung, wie er sich den Weg dorthin gebahnt hat. Die Schublade war zu. „Bist du durch das Loch in der Seitenwand in den Küchenschrank gelangt, hast die Box mit Müslizutaten als Tritt benutzt und auf diese Weise das obere Schrankfach erreicht, dich dann gereckt und gestreckt, bis du mit deinen Vorderpfötchen den Rand der Lade umklammern konntest, um dich daran hochzuziehen und durch einen ca. 1,5 cm schmalen Spalt zu zwängen?“ Hinz erteilt mir auf diese Frage keine Auskunft, sondern schweigt beharrlich vom Hängeboden im Bad herunter. Gewiss ist nur: Die Blister sind zernagt und etliche Tabletten mit Wirkstoff-Mengen, die auf mein Körpergewicht abgestimmt sind, fehlen. So er die alle gefressen hat, dürfte das für ihn tödlich enden. Im Moment ist er allerdings ziemlich lebendig. Als ich auf die Toilette steige, weil ich ihn vom Hängeboden herunterholen will, nachdem der Futterpfiff und das Anlocken mit Futter nichts bewirkt haben, springt er über meinen Kopf hinweg in Richtung Küche und verschwindet hinter dem Schrank mit dem Medikamentenfach. „Gute Idee“, lobe ich ihn. „Du willst mir den Weg zeigen, den du gegangen bist, damit ich ihn verstopfen kann.“ Leider bin ich im Irrtum. Hinz hockt hinterm Küchenschrank und wirkt irgendwie trotzig.

Sonntag, 19. Juni 2016

Wenn du nicht zur Ratte findest, findet sie zu dir?

Donnerstagabend kurz vor Tagesschau

Ich öffne die Käfigtür, damit die Ratten spazieren gehen können. Das tun sie. Allerdings nicht kurz. Sie verschwinden langanhaltend hinter Schränken und Regalen, von wo aus ich es gelegentlich rascheln, knuspern, knistern, poltern höre, zeigen sich nur hin und wieder und jedes Mal woanders.

Hinz hinterm Schrank
Kunz hinterm Regal














Knut hinterm Wörterbuch

Donnerstagabend kurz vor Mitternacht

Knut springt zurück in den Käfig. Von den beiden anderen fehlt jede Spur. Ich bin müde, lege mich ins Bett und rufe von dort aus Knut zu: „Gute Nacht!“ „Gute Nacht“, antwortet er. Alsbald breitet sich Stille in unserer Wohnung aus.

Freitagmorgen

Ich bin als erste wach. Knut schläft im Käfig, Hinz und Kunz, die beiden weißen, auf dem Käfig. Ich stupse Kunz an sein Näschen, er schreckt hoch, springt in meinen Arm, wovon auch Hinz erwacht und wohin auch immer hüpft. Jedenfalls setze ich nur Kunz zu Knut und schließe den Käfig, damit sie in ihm bleiben, während ich Hinz suche. Ich suche ihn tatsächlich, finde ihn jedoch nicht. Irgendwann muss ich zur Arbeit. Bevor ich aus der Wohnung gehe, stelle ich alles Essbare so, dass Hinz nicht hingelangen kann, denn, so denke ich, wenn er außerhalb des Käfigs nichts Essbares findet, wird er irgendwann zurückkehren.

Freitagabend

Als ich von der Arbeit komme, ist Hinz nirgends zu sehen, Knut und Kunz kratzen aufgeregt am Gitter. Früher oder später muss Hinz sich zeigen. Es scheint später zu werden. Ich lasse Knut und Kunz aus dem Käfig und erteile ihnen den Auftrag, Hinz zu suchen. Sie laufen von dannen, kommen aber nicht mit Hinz zurück, sondern bleiben ebenfalls verschwunden.

Nacht von Freitag zu Samstag

Ich wache mehrmals davon auf, dass irgendwo etwas raschelt, etwas knistert, etwas knuspert, etwas poltert, schlafe jedoch immer schnell wieder ein. Müdigkeit macht's möglich.

Samstagmorgen

Keine Ratte in Sicht. Ich verlasse grußlos die Wohnung. Wen sollte ich auch grüßen?

Samstagnachmittag

Als ich von der Arbeit komme, sitzt Knut mitten im Zimmer und sieht mich aus schwarzen Kulleraugen liebevoll an. „Hallo Knut“, sage ich freudig. Er winkt mir zu, ich nehme ihn hoch und auf den Arm, streichle ihn, setze ihn aber mit der Bitte, seine beiden Kumpel zu suchen, bald wieder auf den Boden. Er läuft los. Dem Gefiepe, das kurz darauf unterm Bett einsetzt, entnehme ich, dass er dort auf mindestens einen seiner Artgenossen gestoßen ist, dann kehrt Ruhe ein, aber keine Ratte zu mir oder in den Käfig zurück. Macht nichts, beschließe ich. Irgendwann werden die Tiere Hunger kriegen und den Käfig aufsuchen, denn schließlich ist er der einzige Ort, an dem Futter in Ratten-Reichweite steht, denke ich und widme mich dem Haushalt. Ich höre es mal hier und mal dort hinter Schränken und Regalen rascheln, knuspern, knistern, poltern und auch munkeln – Ratten lieben es halt im Dunkeln.

Samstagabend

Als ich Gemüsereste in den Ökomüll werfe, sehe ich die Bescherung: Der Käfig ist keineswegs der einzige Ort, an dem Futter in Ratten-Reichweite steht! Am Küchenabfall haben die Lieben sich gütlich getan und dabei Spuren hinterlassen! Und ich wundere mich, dass die ihren Futternapf nicht vermissen! Grrr! Die Kleckerfritzen selbst sind allerdings nirgends zu sehen. Leicht verdrossen fege ich die herumgeworfenen Schalen von diversem Obst und Gemüse zusammen, bringe allen Müll aus der Wohnung und bin sicher, nun werden sich Knut, Hinz und Kunz recht bald am Futternapf im Käfig versammeln.

Nacht von Samstag zu Sonntag

Nichts.

Sonntagmorgen

Nichts außer gelegentlichem verborgenen Rascheln.

Sonntagvormittag

Nichts außer gelegentlichem verborgenen Knuspern.

Sonntagmittag

Nichts außer gelegentlichem verborgenen Knistern.

Sonntagnachmittag

Nichts außer gelegentlichem verborgenen Poltern.

Sonntagabend

Knut springt in den Käfig und begibt sich schnurstracks an den Futternapf. Ich schöpfe hinsichtlich der beiden anderen neue Hoffnung.