Mittwoch, 19. März 2014

OECD am Bahnhofskiosk

"Na, ihr fünf", frage ich, als ich nach Hause komme und mich in den Sessel plumpsen lasse, nachdem ich den Käfig geöffnet habe, "wollt ihr wissen, warum mit mir heute nichts mehr anzufangen ist?" Fünf Ratten strecken mir neugierig ihre Köpfe aus dem Käfig entgegen, als wollten sie sich vergewissern, dass mit mir heute tatsächlich nichts mehr anzufangen ist. Dann tuscheln sie erst miteinander und strecken mir anschließend wieder ihre Köpfe entgegen, diesmal eher besorgt. "Na, ja", sage ich nach ein paar Minuten des Schweigens, "so schlimm ist es nun auch nicht" und füge nach erneutem Schweigen hinzu: "Ich brauche nur mal ein paar Minuten lang nichts." Der Ausdruck in den Blicken der fünf Ratten wechselt von besorgt zu erstaunt. Dann erkundigt sich Moritz, indem er aus dem Käfig springt und über den Tisch auf mich zugeschlichen kommt: "Du brauchst wirklich nichts?" Ich nicke. Max gesellt sich zu Moritz und behauptet: "Doch, du brauchst etwas." "Nö", widerspreche ich, "für ein paar Minuten bitte nichts." "Aber das geht doch gar nicht", protestiert jetzt Dachs, der zunächst noch im Käfig hocken bleibt. "Stimmt", gebe ich mich geschlagen, "aber nur, wenn man fünf Ratten hat." "Was soll das denn heißen?", grummelt Ratz vergnatzt aus der hintersten Käfigecke und arbeitet sich bis zur geöffneten Käfigtür vor. "Och", antworte ich, "das muss ich jetzt nicht erklären." "Doch!", behauptet Rabatz, der nun auch aus dem Käfig schaut. "Arrgh!", schimpfe ich. "Mit fünf Ratten ist halt immer etwas los. Nichts gibt es nicht." Ein gedehntes "Ach soo" dringt aus fünf Ratten-Mäulchen bzw. Schnäuzchen gleichzeitig, "nichts Ernstes also." Ich gebe mir Mühe, meinem Gesicht einen genervten Ausdruck zu verleihen. "Und", erkundigt sich Rabatz kurz darauf, "warum ist mit dir heute nichts mehr anzufangen?" Ich spucke die Stichworte "Hexenküche in meinem Kopf" und "Chaos" aus. Das verstehen die drei Kleinen nicht, also erkläre ich: "Mit öffentlichen Verkehrsmitteln war ich unterwegs. Öffentliche Verkehrsmittel sind Orte, an denen Milliarden von Ereignissen, die alle nicht zusammenpassen, aber dennoch gleichzeitig stattfinden, auf einen einprasseln. Die Menge der Leute in den Fahrzeugen setzt sich durch Aus- und Einsteigende fortwährend neu zusammen und niemand wahrt einen Mindestabstand zu den anderen um sich herum. Ein genervter Vater hat ein Kind auf dem Arm, das nicht nur weint, sondern dem Geruch nach zu urteilen auch in vollen Windeln steckt, zwei Gymnasiasten unterhalten sich über ihre Zukunftspläne, wenn's mit Schauspiel nicht klappt, dann machen sie vielleicht irgendetwas Pädagogisches, ein Krawatten-Typ, der wie Sparkasse aussieht, öffnet einen wichtig scheinenden Aktenkoffer, der jedoch nur die BILD und eine Brotdose enthält, unentwegt klingeln Handys, worauf deren Besitzer reagieren, indem sie die Anrufe annehmen und unsichtbaren Gesprächspartnern lautstark berichten, auf welchem Streckenabschnitt sie gerade sind und wie lange ihre Fahrt voraussichtlich noch dauern wird, Parfümwolken mischen sich mit denen von Döner Kebap, Verkäufer von Straßenmagazinen brüllen ihre Texte, Neon-Lampen flackern... um nur einiges zu nennen." "Hm", murmelt Moritz, "klingt irgendwie nach Stress" und Max nickt. "Aber", fahre ich fort, "zum krönenden Abschluss gab es dann noch etwas Beeindruckendes." Dachs, Rabatz und Ratz springen aus dem Käfig und lassen sich neben Max und Moritz vor mir auf dem Tisch nieder. Fünf Ratten schauen gebannt auf mich, als wäre ich eine Kinoleinwand. "Nun erzähle schon!", quängeln sie. Ich spanne sie noch einige Sekunden auf die Folter, dann beginne ich: "Nachdem ich aus der U-Bahn ausgestiegen war, hörte ich am Bahnhofskiosk, wie eine Kundin zum Verkäufer sagte: "Zickzack schlimm OECD blau doppelt." Ich spüre ratlose Rattenblicke auf meinen Lippen. "Die Frau wollte irgendetwas Schlimmes kaufen", vermutet Max. "Eindeutig", fügt Dachs hinzu, "und zwar doppelt." "Doppelt schlimme OECD", knurrt Ratz. "OECD - Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Das sind die, die in ihrer neuesten Studie vor einer Rentner-Schwemme warnen." "Oh, Ratz", flüstere ich vor mich hin. "Du hast die Zeitungsschnipsel, die ich Euch zum Nestbau in den Käfig gestopft habe, mal wieder sehr gründlich gelesen. Vielleicht etwas zu gründlich. Fühlst du dich als Ratten-Rentner persönlich angegriffen?" Ratz schüttelt den Kopf, wirkt aber dennoch bedrückt. Rabatz kehrt zum Ausgangspunkt zurück: "Noch einmal zu deinem Erlebnis: Die Frau wollte doch nicht wirklich die OECD kaufen." "Natürlich nicht", pflichte ich ihm bei. "Sie hat undeutlich gesprochen und obendrein in den Alltagslärm hinein genuschelt. Dennoch hat der Verkäufer sie verstanden, wie auch immer ihm das gelungen ist." "Was hat er ihr denn verkauft?", erkundigt sich Rabatz. "Tabak, Filter und Paper", zähle ich auf. "Also doch schlimm", kommentiert Ratz.

Link: http://www.focus.de/finanzen/altersvorsorge/neue-oecd-studie-vergreisungs-schock-in-deutschland-rentner-schwemme-bedrohlicher-als-finanzkrise_id_3698471.html

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