Samstag, 26. Oktober 2013

Problembeladene problematische Problembündel

Entgegen sonstiger Gewohnheit komme ich nichts sagend (getrennt geschrieben, also nicht nichtssagend) nach Hause, stelle meinen Rucksack neben das Fahrrad, vergesse, die Ratten aus dem Käfig zu lassen, setze Teewasser auf, stelle mit Erleichterung fest, dass das Telefon nicht blinkt, ich also niemanden zurückrufen muss, und stöhne dennoch, als ich den Rechner hochfahre und den Ordner Dokumentationen öffne… Erst dann werde ich gewahr, dass hinter mir die Rattenböcke mit aller ihnen zur Verfügung stehenden Kraft verZWEIfelt – zu ZWEIt - am Käfig rütteln und ihren Namen alle Ehre, also Ra(ba)tz machen. „Lass uns raus, lass uns raus, sonst rebellieren wir“, rufen sie wie aus einem Mäulchen bzw. Schnäuzchen. „Was soll das denn?“, frage ich, „Ihr adaptiert neuerdings Märchen?“ „Was anderes als das, was du uns zum Lesen hinlegst, können wir schließlich nicht lesen“, mault Ratz und zeigt auf die neben dem Käfig aufgeschlagen liegende Sammlung der Brüder Grimm. „Sonst studiert ihr immer die Zeitungsschnipsel, die ich euch mit der Streu in den Käfig schmeiße“, sage ich. „Die langweilen diesmal“, klagt Rabatz. „Was ist es denn?“, erkundige ich mich. „Och, irgendein Lifestyle-Mist aus dem Berlin-Teil oder so.“ „Hm“, halte ich dagegen. „Lebensstil… Muss nicht zwingend langweilig sein. Ich werde täglich mit den verschiedensten Lebensstilen konfrontiert, die wenigsten davon ähneln auch nur im Ansatz meinem, aber gerade das macht sie interessant.“ „Das kannst du aber nicht vergleichen“, merkt Ratz an, „Du hantierst im Leben derer, die längst ins Abseits katapultiert, die krank, behindert oder von Behinderung bedroht sind, die zusammen mit Angehörigen und – so sie noch welche haben – Freunden aus dem Abseits heraus darum kämpfen, nicht nur auch ein wenig am Leben teilnehmen, sondern obendrein Freude daran haben zu dürfen…“ Er hält kurz inne, wahrscheinlich deshalb, weil ich ihn entgeistert anschaue, und fragt kleinlaut: „Habe ich dich nicht richtig wiedergegeben?“ „Doch, doch“, beeile ich mich zu erwidern, „nur habe ich nie geahnt, einen derart aufmerksamen Zuhörer in dir zu haben.“ „Ja, ja, du unterschätzt mich“, fährt er fort, „aber zurück zum Thema. Die Lebensstile derer im Abseits darfst du mitnichten mit dem vergleichen, was auf den Lifestyle-Seiten der Zeitungen steht.“ „Du hast Recht“, falle ich ihm ins Wort, „Lifestyle beinhaltet nicht Leben, sondern stylisches Leben. Ich stelle ihn mir anstrengend vor, diesen sinnlosen Kampf, cooler, geiler, krasser, abgefahrener, hipper… als alle anderen zu sein. Und langweilig.“ „Sage ich doch“, triumphiert Rabatz, „langweilg.“ „Allerdings“, gebe ich zu bedenken, „glaube ich, dass Menschen, die in ihrem endlos scheinenden Kampf – David gegen Goliath, Mensch gegen (Eingliederungshilfe bewilligende bzw. ablehnende und Antragsteller bevormundende) Behörde - so problembeladen sind, dass sie davon zuweilen tatsächlich auch selbst problematisch werden, also wahrhaftig problembeladene problematische Problembündel sind, sich – zumindest manchmal – nichts sehnlicher als eine Portion Langeweile wünschen.“ „Jetzt verwechselst du Langeweile mit Freizeit“, kontert Ratz. „Ja“, stimme ich ihm nach kurzem Nachdenken zu. „Und warum“, so Rabatz, „hast du dich vorhin stöhnend auf deinen Schreibtischstuhl fallen und uns unnütz lange im Käfig schmachten lassen? Du hast doch genügend Freizeit.“ „Nun ja“, gestehe ich, „ich habe mehr Freizeit als die meisten derer, in deren Leben ich mich erwerbstätigerweise einmische, aber ein problembeladenes problematisches Problembündel bin ich leider irgendwie auch.“ „Findest du? Ist mir noch nie aufgefallen“, säuselt Rabatz nachdenklich. „Das liegt daran, dass du eine Ratte bist“, sage ich. Darauf er: „Ist das jetzt eine Beleidigung?“ Dann wieder ich: „Nein.“ „Na, man merkt das aber doch schon, dass du nicht so 100%ig normal bist. Auch als Ratte“, wispert Ratz und fügt einschränkend hinzu, „zumindest manchmal.“ „Irgendwie sehe ich überall nur noch Probleme. Nichts als Probleme“, ächze ich, „zum Beispiel hier! Seht mal, wie dreckig es hier ist, alles voller Dreck!“ Rabatz wuselt auf dem Teppich herum und ruft übermütig: „Dreck? Wo? Wo? Wo?“ Ich zeige missmutig schweigend auf verschiedenstes undefinierbares Körniges um mich herum, woraufhin Rabatz piepst: „Brot- und Nusskrümel! Lecker! Lecker! Lecker!“, von einem Stückchen zum nächsten springt und freudig weitere von mir als solche bezeichnete Probleme sucht. „Leider lassen sich nicht alle Probleme so einfach aufessen“, prustet es aus mir heraus, „und täten sie es doch, würden selbst die geübtesten Esser mit den elastischsten Mägen platzen, denn die Probleme sind zu viele und zu groß.“ „Aber Pseudo-Probleme lassen sich als solche enttarnen“, argumentiert Rabatz. Recht hat er! Ratz, der Nahrungsstücke bevorzugt, die größer sind als Krümel, begibt sich unterdessen in die Küche. Ich beschließe, dass die heutigen Klienten-Dokumentationen, derentwegen ich den Computer hochgefahren habe, auch ein Viertelstündchen später geschrieben werden können, und folge ihm dorthin, wo ich dann erneut Teewasser aufsetze, denn das Gerät schaltet sich ab, sobald das Wasser in ihm siedet, aber nach der Abkühlung auf lauwarm nicht automatisch wieder ein. (Und auch das ist kein wirkliches Problem, sondern sinnvoll. Wie oft würde sonst, wann immer ich vergesse, dass ich ein Heißgetränk hatte zubereiten wollen, Wasser stundenlang im Wechsel zum Sieden gebracht und wieder abkühlen, zum Sieden gebracht und wieder abkühlen…) „Es gibt aber leider auch Probleme, die sich als Giganten vor den ohnehin schon problembeladenen problematischen Problembündeln auftürmen, ihnen die Sicht versperren, sie am Weitergehen hindern, zur Handlungsunfähigkeit verdammen und sich nicht als Hirngespinste erweisen…“, murmele ich vor mich hin. „Ach was“, plappert Rabatz, „dazu hat Gott, der Schöpfer, die Nagetiere geschöpft. Wir raspeln mit unseren Raspelzähnchen alles klein.“

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen