Sonntag, 6. Oktober 2013

Gentrifizierung anders herum – erst die Bewohner, dann das Quartier

„Na, ihr zwei“, frage ich, als ich nach Hause komme, meinen Rucksack neben das Fahrrad stelle und ihren Käfig öffne, „wollt ihr wissen, welcher für euch und eure Artgenossen existenziell wichtige Prozess heute in Gang gesetzt wurde?“ … Auf meine Frage hin passiert zunächst weiter nichts, als dass zwei Ratten in der Küche verschwinden, auf die Ablage springen, wo das Gemüse liegt, und zu knuspern beginnen. „Ich habe eigentlich etwas mehr Interesse erwartet“, sage ich. Ratz kaut schnell hinunter und erwidert dann leicht verschnupft: „Existenziell wichtig! Pah! Wer hat denn wessen Existenz wo gesichert? Gibt es wieder irgendwelche neuen Startup-Designer-und-Mode-Irgendetwas zwischen Künstler-Cafés, wo vorher Ramschläden und Discounter waren? ... Du bist heute spät! Wir waren in unserer Existenz gefährdet! Das Futter im Käfig ist alle!“ „Hm … ja … also … das tut mir leid“, stammele ich, „aber eigentlich … Ja, du hast recht. Zu Beginn meiner heutigen häuslichen Abwesenheit ging es um Gentrifizierung. Ich habe an einer Führung durch den Wedding teilgenommen, während der Orte aufgesucht wurden, an denen man die derzeitige Verdrängung der angestammten Bevölkerung durch materielle und immaterielle Aufwertung bereits deutlich sehen kann: Am Ansehen des ehemals schlecht angesehenen Quartiers wird wegen seiner innerstädtischen und daher profitablen Lage so lange poliert, bis die nach wie vor schlecht angesehenen Menschen dort wegziehen, aus Kostengründen wegziehen müssen. Aber danach habe ich mich mit Charly und Maja getroffen und bevor sie mich zum Essen eingeladen haben, waren wir …“ „Du hast dich zum Essen einladen lassen“, entrüstet sich Ratz, „und wir hocken hier vor dem leeren Futternapf!“ „Lass sie doch erst einmal ausreden“, beschwichtigt ihn Rabatz, indem er ihm eines seiner Vorderpfötchen in den Nacken legt und mit seinem Mäulchen bzw. Schnäuzchen – ich weiß wirklich nicht, ob das bei Ratten Maul oder Schnauze heißt – sanft an einem Ohr knabbert, und fordert mich mit einem aufmunternden Blick zum Weitersprechen auf. „Danke, Rabatz“, sage ich und fahre fort: „Wir waren am Schäfersee und haben dort die wilden Ratten besucht und gefüttert und …“ „Gefüttert?!“, unterbricht mich Ratz kreischend. Ich schreie zurück: „Oh, Gift und Galle, jetzt halte doch einfach einmal deine Klappe!“ Das ist nun allerdings zu viel des Bösen. Ratz ist beleidigt und schmollt: „Ich habe ein Mäulchen bzw. Schnäuzchen, aber keine Klappe ... Du fütterst also fremde Ratten und uns lässt du darben.“ Ich nehme ihn auf den Arm und streichle ihn und sage: „Ihr bekommt auch Futter. Aber eigentlich will ich doch erzählen, was Maja heute am Schäfersee zum Bleiberecht eurer Artgenossen beigetragen hat. Es waren nämlich auch andere Menschen dort, allerdings nicht wegen der wilden Ratten, sondern den wilden Enten und Schwänen zuliebe. Und als zwei Mädchen fast auf eines der Rattennester getreten wären, hat Maja gewarnt: >>Vorsicht, da leben unsere Ratten!<< Eines der beiden Mädchen schrie sogleich: >>Ih, Ratten!<< Kurz darauf fügte es jedoch nachdenklich hinzu: >>Ich habe noch nie eine Ratte gesehen.<< Ihr könnt euch vorstellen, was Maja getan hat? Sie hat den Mädchen die Ratten gezeigt und ihnen erklärt, wie niedlich und lieb und schlau sie sind und dass sie dasselbe Existenzrecht wie Enten und Schwäne haben. Und ab jetzt werden die Mädchen, wann immer sie kommen, um die Enten und Schwäne zu füttern, auch für die Ratten etwas mitbringen.“ „Das ist schön“, gesteht Ratz und springt von meinem Arm zurück ins Gemüse. Rabatz gesellt sich kopfschüttelnd zu ihm und murmelt vor sich hin: „Wie kann man >>Ih, Ratten!<< schreien, wenn man noch nie zuvor eine gesehen hat?“ „Das verstehe ich auch nicht“, flüstere ich vor mich hin und Ratz fügt hinzu: „Maja hat das Ansehen von Ratten poliert, damit unsere wilden Artgenossen auch noch am Schäfersee leben dürfen, wenn demnächst dort ringsum ebenfalls alles gentrifiziert wird.“ „Ja, ja“, lache ich, „Ratten werden als hipp und total angesagt gelten. Zum Glück fliegt zur Zeit noch alle paar Minuten lärmend und Kerosin ausstoßend ein Flugzeug von oder nach Tegel über den Schäfersee und das wird auch so bleiben, bis der Schönefelder Flughafen seinen Flugbetrieb im anvisierten Umfang aufnimmt. Bevor also Stadtplaner und Quartiersmanager in Kooperation mit Kreativwirtschaftlern, Wohnungsvermietern und –verwaltern mit der Aufwertung des Quartiers am und um den Schäfersee beginnen können, bleibt für die Imagekampagne der Ratten genügend Zeit.“

Foto c/o Maja Wiens

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