Montag, 2. Juni 2014

Unter falscher Flagge

"Na", fragt mich der ängstliche Moritz, der offenbar das Mutig-Sein übt, denn er ist aus dem Käfig, den ich geöffnet habe, zu mir ans geöffnete Fenster und den Weg über die Tischplatte hinter mir genommen habend auf meine Schulter gesprungen, "was ist mit dir heute wieder los?" "Was soll mit mir los sein?", entgegne ich. "Es soll gar nichts", erwidert er, "aber deinen Morgenkaffee hast du getrunken, der Rechner ist hochgefahren... Warum sitzt du nicht am Schreibtisch?" "Weil ich vorher lüften will und beim Öffnen des Fensters auf der Straße etwas entdeckt habe, was meine Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt", führe ich aus. "Was denn?", erkundigt er sich. "Na guck doch selbst", fordere ich ihn auf. "Was siehst du?" "Sehr viel verschiedenes", sagt er, "und da wir in dieselbe Richtung schauen..." - er dreht sich kurz zu mir, um sich zu vergewissern - "sehen wir wohl beide dasselbe." "Im Großen und Ganzen ja", gebe ich ihm recht, "aber Wahrnehmung ist von Wesen zu Wesen verschieden, individuell und selektiv. Was fällt dir spontan als erstes auf, wenn du auf die Straße schaust?" "Die gestreiften Mini-Flügel links und rechts an dem blauen Auto da drüben", teilt er mit. "Hä?" Ich stutze, wenngleich nur einen sehr kurzen Moment. "Moritz", rufe ich sodann begeistert aus, "wir sind wesensverwandt! Du siehst Flügel, wo mit gelb-rot-schwarzem Stoff überzogene Rückspiegel sind!"


"Wie phantasielos!", schmollt er. "Meinetwegen. Sind das eben Rückspiegel. Aber warum gestreift?" "Die deutsche Fahne verkehrt herum", grummelt Ratz aus dem Hintergrund. "Jawohl, verkehrt herum gestreift", wiederholt Dachs, der neben ihm hockt, gelehrig. Max und Rabatz, die sich nun ebenfalls für die Streifen am Rückspiegel des auf der Straße parkenden Autos zu interessieren beginnen, eilen herbei und springen auf das Fensterbrett. "Was für Streifen? Ich will die auch sehen", fordert Max. "Ich auch", verlangt Rabatz. "Fußballweltmeisterschaft", knurrt Ratz vom Käfig aus. "Alle, die wollen, dass Deutschland gewinnt, bringen an den abenteuerlichsten Stellen die Farben der deutschen Fahne an." "An den abenteuerlichsten Stellen?", bohrt Max nach. "Ja", antworte ich an Stelle von Ratz. "Ich habe sogar Frauen mit gelb-rot-schwarz angemalten Fingernägeln gesehen." "Zurück zum Thema", quängelt Moritz von meiner Schulter herab. "Warum verkehrt herum?" "Diese Frage ist genau der Grund dafür, dass ich hier am Fenster stehe und die mit verkehrt herum gestreiftem Stoff überzogenen Rückspiegel an dem Auto dort anstarre", murmele ich vor mich hin. "Vielleicht meinen Leute, die Streifen verkehrt herum anbringen, gar nicht das Deutschland, für das die National-Elf spielt?", überlegt Max. "Sehr gut!", lobt ihn Ratz. Alle Augen (außer den seinigen) sind nun auf ihn gerichtet, er verdreht die eigenen genervt und erklärt "Gelb-rot-schwarz war die Fahne des Hambacher Festes." "Ah ja", erinnert sich Dachs, "das hast du mir doch vor kurzem erst erklärt: Nationale Einheit, Pressefreiheit, Mitbestimmung wollte das Bürgertum. Die Herrscher der deutschen Kleinstaaten, Preußens und Österreichs indes waren logischerweise gegen die Aufhebung der Kleinstaaterei und verboten diese Fahne. Aber die Menschen waren schließlich nicht blöd, vertauschten den gelben und den schwarzen Streifen, die umgedrehte Fahne wurde dann notgedrungen akzeptiert, später auch zu der der Weimarer Republik, der BRD sowie der DDR und ist im heutigen Deutschland noch immer die Staatsflagge." Ich bin von der Belesenheit beeindruckt, wenngleich die Ausführungen nichts zur Klärung der Frage beitragen, warum deutsche Fußballfans die Fahne des Hambacher Festes als Ausdruck ihrer Leidenschaft verwenden. Max errät wohl meine Gedanken. "Vielleicht geht es ja eigentlich überhaupt nicht um Fußball", vermutet er. "Die Leute nehmen Fußball nur zum Anlass, um darauf hinzuweisen, dass die Ziele von vor knapp 200 Jahren noch immer nicht erreicht sind." Ratz nickt anerkennend mit dem Kopf und ich konstatiere: "Max und Moritz, ich muss schon lobend erwähnen, ihr steht eurem Bruder Dachs in Sachen Bildung in nichts nach. Moritz stellt wichtige Fragen, Max richtige Vermutungen an und Dachs sein Wissen zur Verfügung. Gutes Team!" Lärmschützend schließe ich das Fenster - genug gelüftet - begebe mich mit Moritz, der nach wie vor auf meiner Schulter sitzt, endlich an den Schreibtisch, tippe Hambacher Fest in die Suchleiste und was erblicke ich?! "Nun seht euch das an!", entfährt es mir entsetzt. Augenblicklich kommen von allen Seiten Ratten zwischen mich und den Laptop gesprungen und schauen auf den Bildschirm:

http://www.google.de/imgres?imgurl=http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/77/Hambacher_Fest_1832.jpg&imgrefurl=http://de.wikipedia.org/wiki/Hambacher_Fest&h=432&w=576&tbnid=E1HnPXj50YNcFM:&zoom=1&tbnh=97&tbnw=129&usg=__4IGqtoJEZnyTQIJGw67t77ymb6I=&docid=bOL6Z8XKkurApM&sa=X&ei=qnOMU5GMIon8ywPBrYKYCA&ved=0CF0Q9QEwBQ&dur=143

"Wikipedia. Auf der teilkolorierten Federzeichnung ist die richtige gelb-rot-schwarze Fahne zu sehen, auf den Gedenkbriefmarken am Ende des Artikels die falsche schwarz-rot-gelbe", stellt Rabatz nüchtern fest. "Und was stimmt nun?", piepst Moritz missmutig.

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